"Ob Patienten mit Demenz mich an meine Grenzen bringen? Sicherlich, das kommt schon vor, auch wenn ich als examinierte Altenpflegerin jahrelange Übung habe. Doch für mich gibt es zwei bis drei Mechanismen, die mir helfen, wenn ich merke, dass mein Blut hoch kocht", sagt Heidi Baschek (61), examinierte Altenpflegerin auf der geriatrischen Station im St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Sie und Ihre Kollegin Ellen Panke (38), Krankenschwester mit Schwerpunkt Delir-Management, erzählen, wie sie es schaffen, deeskalierend zu reagieren, wenn ein Patient mit Demenz sich herausfordernd verhält.
1. Tipp: Die Situation verlassen
Heidi Baschek: Nehmen wir die klassische Situation: Ich komme ins Zimmer und der Patient reagiert ungehalten und ablehnend. Dann sage ich oft: „Einen kleinen Moment bitte, ich komme gleich wieder.“ Ich verlasse also die Situation. Und diese Unterbrechung nimmt zunächst oft die Anspannung raus. Denn je nach Demenzform kann es passieren, dass der Patient sich gar nicht mehr erinnert, dass ich die Person bin, die kurz zuvor schon einmal ins Zimmer gekommen ist. Auch ich selbst habe mich dann meistens beruhigt und kann mich wieder besser auf den Patienten einstellen.
Eine andere Möglichkeit ist auch, eine Kollegin oder einen Kollegen zum Patienten zu schicken. Auch so kann sich eine angespannte Situation auflösen.
2. Tipp: tief einatmen
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Heidi Baschek: Eine zweite Strategie, die bei mir gut greift: Tief einatmen und 21, 22, 23 … zählen. Dabei werde ich tatsächlich ruhiger.
3. Tipp: wertschätzend reagieren
Heidi Baschek: Die dritte Herangehensweise ist eigentlich die Beste: Ich reagiere validiant, also wertschätzend. Das heißt, ich versuche in die Realität des Patienten einzusteigen und so deeskalierend auf ihn einzuwirken: Sofern er es zulässt, nehme ich Körperkontakt auf, berühre ihn am Arm oder an der Schulter und versuche ihn durch streichende Bewegungen zu beruhigen. Das funktioniert oft gut. Allerdings bin ich nicht immer dazu in der Lage.
4. Tipp: den Patienten nicht am Kopf berühren
Heidi Baschek: Man muss auch vorsichtig sein, ich habe schon einmal eine gewatscht bekommen. Wichtig ist, den Patienten in einer solchen Situation nicht am Kopf oder im Gesicht zu berühren, das wird leicht als Angriff empfunden.
5. Tipp: langsam und mit tiefer Stimme sprechen
Heidi Baschek: Was bei mir hinzukommt: Mit meinen 61 Jahren und meiner tiefen Stimme respektieren mich die Patienten oft mehr als die jüngeren Kollegen. Mit tiefer Stimme, in kurzen Sätzen und langsam sprechen – das wäre in jedem Fall noch ein ganz wichtiger Tipp, wie man deeskalierend wirken kann.
6. Tipp: Aggression als Symptom betrachten
Ellen Panke: Was mir sehr gut hilft, wenn Demenzkranke aggressiv werden: Ich sage mir, dass es nicht sie selbst sind, die mich beschimpfen, dass es vielmehr die Krankheit ist, die sie so hat werden lassen. Ich versuche, die Aggression zu betrachten wie ein Symptom, ähnlich wie einen auffälligen Puls. Meistens ist es ja nur ein Symptom für Unverständnis.
7. Anknüpfen an das, was den Patienten beschäftigt
Ellen Panke: Eine andere gute Methode ist, sich auf die Wut des Patienten total einzulassen, seine Wahrheit nicht infrage zu stellen. Damit habe ich schon häufig Erfolge erzielt. Wenn mir ein 94-Jahre alter Patient mit abwehrenden Handbewegungen erklärt, er hätte jetzt keine Zeit für mein Anliegen, er müsse seine vierjährige Tochter aus dem Kindergarten abholen, dann erkläre ich im nicht, dass seine Tochter inzwischen Ende 50 ist und nicht mehr in den Kindergarten geht. Vielmehr versuche ich das, was ich pflegerisch plane, mit seinem Wunsch zu verbinden. „Ja, Sie sind ein zuverlässiger Mann, Sie wollen nicht zu spät kommen, das verstehe ich. Aber vielleicht darf ich Ihnen vorher dabei helfen, ein wenig gut auszusehen.“ So oder ähnlich versuche ich ihn abzulenken. Das funktioniert meistens.
[Sie wünschen sich noch mehr Anregungen für den Umgang mit Demenz? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter – so gehen Sie sicher, dass sie auf pflegen-online keine Neuheiten verpassen!]
8. Tipp: Die Notfall-Handtasche
Ellen Panke: Wenn eine 86-järhige Patientin verzweifelt und aufgelöst ihre Handtasche sucht, dann erwidere ich nicht, dass sie vor einer Woche in unserem Krankenhaus auch ohne Handtasche angekommen ist. Wir haben für solche Fälle auf Station eine besondere Lösung parat: eine so genannte Notfall-Handtasche. Darin befinden sich unter anderem eine Brille, Schlüssel und ein Portemonnaie. Das entschärft die Situation, weil sich die Patientin in ihrer aktuellen Realität und ihren Bedürfnissen verstanden und ernst genommen fühlt.
9. Tipp: Ein Nein akzeptieren
Ellen Panke: Und ganz klar ist: Wenn ein Patient zum Beispiel partout die Wäsche nicht wechseln möchte, sollte man ab einem gewissen Punkt sein Nein akzeptieren. Er hat ja ein Recht darauf, Nein zu sagen und in diesem Beispiel sozusagen ein Recht auf „Ungepflegtheit“, auch wenn das zunächst nicht mit unserer Auffassung von „guter Pflege“ harmoniert.
10. Tipp: Lachen erlaubt!
Ellen Panke: Was für mich ganz allgemein im Umgang mit Demenzkranken ebenfalls wichtig ist: Man darf lachen – nicht über die Demenzkranken, aber mit ihnen. Wenn die Patientin sich etwa mit der Gabel die Haare kämmt: Dann lache ich nicht, weil sie etwas Lächerliches getan hat, sondern weil die Assoziation, die sie hat, für mich sogar irgendwie nachvollziehbar ist und mir Freude bereitet. Das wiederum bereitet ihr idealerweise Freude. Vielleicht lässt sich auf diese Weise auch manche aggressive Situation auflösen – das müssten wir vielleicht doch häufiger probieren.
11. Tipp: Mit Kollegen über eskalierte Situationen reden
Ellen Panke: Nichtsdestotrotz: Es gibt immer wieder Situationen, in denen man die Geduld verliert. Wenn Patienten zum Beispiel sehr persönlich werden oder einen unsittlich berühren. So etwas beschäftigt mich lange, weil ich dann glaube, professionell versagt zu haben. Andererseits: Erfolgreich ist man mit seiner Arbeit nur, wenn man menschlich bleibt und sich berühren lässt. Ideal ist, wenn man über solche Eskalationen mit Kollegen sprechen und Lösungen finden kann.
12. Tipp: Auf Zahnbürste und Hörgerät achten
Ellen Panke: Die Zahnprothese sitzt nicht richtig und schmerzt, die Hörgeräte sind aus oder nicht eingesetzt. Häufig reicht dies schon aus, damit ein Patient unwirsch reagiert. Leider ist es oft nicht auf den ersten Blick erkennbar, wo es hakt. Deswegen ist es hilfreich, stets von vornherein auf diese möglichen Ursachen zu achten.
Tipp 13: Daran denken, dass es auch ein Delir sein könnte
Ellen Panke: Neue Erkenntnisse zeigen: Menschen mit Demenz entwickeln im Krankenhaus unter Umständen ein Delir. Es kann postoperativ auftreten, Ursachen können aber auch Wechselwirkungen von Medikamenten sein, Stoffwechsel- oder Blutzuckerentgleisungen, Veränderungen des Salz- und Elektrolythaushalts im Blut – und nicht zuletzt die ungewohnte Umgebung. Sollte das herausfordernde Verhalten durch ein Delir hervorgerufen sein, gilt es die Ursache zu finden und schnell (individuell) zu reagieren. Im Alter und bei Menschen mit mehreren Krankheiten steigt das Risiko für ein Delir
Protokoll: Kirsten Gaede/Nina Sickinger