Der junge Mann liegt da mit gespreizten Beinen. Sein Atem geht stoßweise. »Wir lassen der Natur freien Lauf«, erklärt die Ausbilderin den Umstehenden. »Und wenn etwas schief geht, greifen wir nicht ein. Das tut die Hebamme. Komm! Du schaffst es!« Endlich holt sie eine Puppe aus der Kunststoff-Gebärmutter. Geklatsche und Gejohle. »Bravo, Monsieur. Gut gemacht. Es ist ein Junge.« Aber das Baby atmet nicht. Was tun?
»Pusten.« Denn Pusten aktiviert einen natürlichen Reflex: Der Atem kitzelt in der Nase, das Kind lacht. Und wer lacht, fängt an zu atmen.
Vene finden, Spritze aufziehen, Hände waschen
Wer den Dokumentarfilm »Zu jeder Zeit« (Link zum Trailer) über Pflegerinnen und Pfleger in der Ausbildung sieht, wird en passant selbst zu einem der 270 Azubis eines Jahrgangs am Institut de la Croix Saint-Simon in Montreuil. Der Zuschauer erlebt hautnah, wie schwierig es ist, die Vene am ausgestreckten Arm der Mitschülerin zu finden. Er lernt den Kniff, wie man die Bläschen am schnellsten aus der aufgezogenen Spritze bekommt (die Spritze senkrecht nach oben halten, sonst wird es nie was) und auf welche Weise man seine Hände zu waschen hat.
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Gähnen im Unterricht, Lachen bei den Übungen
Der Filmemacher Nicolas Philibert führt bei seiner Doku selbst Regie, macht die Kamera und stellt keine Fragen. Er ist einfach dabei, fängt mit der Linse seiner Kamera die Konzentration in den Gesichtern der Auszubildenden ein, den Wunsch, lernen zu wollen, die Frustration, wenn der Handgriff nicht klappt, die Langeweile beim Frontalunterricht und das Lachen bei den praktischen Übungen: Wie bekommt man einen halbseitig gelähmten Patienten aus dem Bett in den Rollstuhl? »Lass den Popo wandern. Erst eine Seite, dann die andere. So kommen die Füße nach vorne.«
... und jetzt ran ans Patientenbett
Im zweiten Teil der Dokumentation geht es aus den Klassenzimmern ins Krankenhaus, von den Puppen an den lebendigen Patienten, und schnell wird klar, dass die Pflegerin und der Pfleger es nicht nur mit einer Wunde zu tun hat, die gesäubert, der Vene, die zum Blutabnehmen gefunden werden muss, sondern auch mit der Gefühlslage des Patienten, mit seiner Hilfsbedürftigkeit, seiner Angst und seinen Schmerzen.
Kleines Psychologie-Studium
Und mit jeder Minute wächst der Respekt vor dem angehenden Pfleger, der in der Krankenhaushierarchie ganz unten steht, der schlecht bezahlt wird und miese Arbeitszeiten auf unterbesetzten Stationen hat. Zur Technik und den richtigen Handgriffen kommt jetzt noch die Psychologie. Den Patienten beruhigen, die richtigen Worte finden und wissen: Das Kind verliert seine Angst und wird ruhiger, wenn die nervösen Eltern aus dem Behandlungszimmer geschickt werden. »Es ist nicht einfach, aber manchmal klappt es«, tröstet die Ausbilderin.
Der erste Tote
Als Zuschauer entwickelt man Sympathien für die Auszubildenden, die alles geben, aber der einzelne bleibt namenlos. Seine Gedanken und Gefühle, persönlichen Nöte und Schwierigkeiten erfährt man im dritten Teil der Dokumentation, wenn der Auszubildende seinem Ausbilder gesteht, was es mit ihm macht, dass er bei seinem Einsatz in der Kardiologie zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert ist, und das gleich am Fließband.
Dumme Sprüche von Vorgesetzten
Aber auch der Papierkram verursacht Stress, der Umgang mit den Kollegen und dem Vorgesetzten, der sagt: »Du hast wohl den falschen Beruf gewählt.« Und sichtbar wird auch das, was dem Patienten meistens verborgen bleibt und was ihn möglicherweise auch am wenigsten interessiert: die persönliche Situation seines Pflegers, der von der Sehnsucht nach der Familie auf Martinique geplagt ist, der nach einem Einbruch im Wohnheim der Versicherung hinterhertelefonieren und – statt zu lernen – frieren muss und nicht schlafen kann.
Aggressive Patienten
Und wie geht die angehende Pflegerin mit der Wut und dem aggressiven Verhalten des Patienten um, der sich von ihr nicht behandeln lassen will? »Nehmen Sie es nicht persönlich«, rät die Ausbilderin, »aber bewahren Sie sich Ihre Verletzlichkeit.«
Autor: Christian Schünemann